- Sowjetunion: Der Zerfall der UdSSR und die Gründung der GUS
- Sowjetunion: Der Zerfall der UdSSR und die Gründung der GUSJahrzehntelang hatte die politische Führung der UdSSR geleugnet, dass es auf dem Territorium der Sowjetunion ein Nationalitätenproblem gebe. Die nationale Frage galt seit den Zwanzigerjahren offiziell als »gelöst«. Die Verfassung der UdSSR von 1924 betonte die Wirtschaftseinheit des Gesamtstaats und sprach vom »Sowjetvolk«, in das die über hundert Ethnien wie in einer Familie verschmolzen seien. Verbindendes Element aller Sowjetbürger sei die Aufgabe, gemeinsam den Kommunismus aufzubauen. Dieses Grundgesetz ging von der »freiwilligen Vereinigung gleichberechtigter Völker« aus und räumte den Republiken das Recht zum »freien Austritt aus dem Bundesstaat« ein. Einklagbar war dieser Verfassungstitel freilich nicht und politisch gegenüber der Moskauer Zentralgewalt auch nicht durchsetzbar, solange diese durch den allmächtigen Parteiapparat und dessen führende Rolle in Staat und Gesellschaft allen Anfechtungen trotzen konnte.So nimmt es nicht wunder, dass es zu keinem Zeitpunkt gelang, die beschworene Gleichberechtigung aller Bewohner und Völker des Sowjetimperiums einzulösen. Vielmehr brach immer wieder das Bestreben der jeweiligen Führungsspitze im Zentrum durch, die Randvölker in einen russisch beherrschten Einheitsstaat einzubinden. In den teilweise künstlich geschaffenen 15 Unionsrepubliken (SSR), 20 Autonomen Republiken (ASSR), acht Autonomen Gebieten und zehn Autonomen Kreisen herrschte niemals Selbstbestimmung. Zwar hatte die Nationalitätenpolitik Moskaus die Entwicklung nationaler Identitäten teilweise erst möglich gemacht, dann aber die Pflege der unterschiedlichen Kulturen stark eingeschränkt oder sogar verboten. Der in der Verfassung verankerte Föderalismus stand nur auf dem Papier. Die Wirtschaftspolitik zwang die Republiken in eine erdrückende Abhängigkeit vom russischen Zentrum. So förderte beispielsweise Aserbaidschan Erdöl für die Union, produzierte Usbekistan Baumwolle, lieferten Georgien und Moldawien Wein und Branntwein. Viele Völkerschaften blieben in einem Vorstadium der Nationsbildung stehen.Nur wenige Unionsrepubliken hatten im Verlauf ihrer Geschichte eine Phase der Unabhängigkeit erlebt. Zum Beispiel blickten Armenien und Georgien auf eine alte und reiche nationale Vergangenheit zurück. Nach der Revolution von 1917 und dem Zerfall des russischen Reiches genossen beide Länder für kurze Zeit Eigenstaatlichkeit. Bei den baltischen Völkern hatte sich das Nationalbewusstsein zwar erst Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet, doch waren sie in der Zwischenkriegszeit unabhängig gewesen. Das ukrainische Nationalgefühl war ebenso jung wie ausgeprägt, zeigte sich auf dem Territorium der Ukrainischen SSR aber unterschiedlich stark. Noch schwieriger war das Eigenbewusstsein der Weißrussen zu bestimmen. Schließlich schickten sich die Bewohner der muslimischen Republiken Zentralasiens erst an, nationale Einheiten zu bilden. Als besonders demütigend empfanden viele Nationalitäten die willkürliche Grenzziehung unter Stalin, dessen Prinzip des divide et impera (»teile und herrsche«) eine Vielzahl von künstlich abgetrennten Gebilden geschaffen hatte.»Völkerfrühling« in den Unionsrepubliken unter GorbatschowNationale Vertreter der Republiken und Territorien führten nach den ersten Lockerungen unter Michail Gorbatschow bittere Klage über diese jahrzehntelange Politik der Zentralgewalt, die den Völkern und Völkerschaften Ausbeutung, Russifizierung und Überfremdung, schlimmstenfalls Deportation und Zwangsassimilation gebracht hatte. Der »Völkerfrühling« im Osten Europas am Ende des 20. Jahrhunderts mündete deshalb in eine »Explosion des Ethnischen«. Nationale Feindseligkeiten brachen auf dem Territorium der UdSSR selbst dort auf, wo sie vormals nie existiert hatten, und zerstörten die erzwungene Pax Sovietica. Da sich unter das historisch begründete Aufbegehren der Völker auch Unzufriedenheit über die aktuelle wirtschaftliche Misere und über die religiöse Unterdrückung mischte, eskalierten die regionalen Konflikte schließlich zur Staatskrise. Während Gorbatschow weiterhin an den »Sowjetpatriotismus« appellierte, drängten die selbstbewussten Nationen des Baltikums, des Transkaukasus und Zentralasiens zur Unabhängigkeit. Im September 1989 beschäftigte sich das Plenum des ZK der KPdSU erstmals mit dem Nationalitätenproblem, doch nun konnte die Entwicklung nicht mehr aufgehalten werden. Es ging längst nicht mehr um eine »Vervollkommnung« der Beziehungen zwischen den Unionsvölkern oder um eine Rückstufung des Russischen von einer »zweiten Muttersprache« zur bloßen Verkehrssprache. Die Existenz der Union selbst stand inzwischen auf dem Spiel.Einzelne Völker verlangten eine Revision der Binnengrenzen. Andere forderten die Annullierung völkerrechtswidriger Verträge, die ihnen unter Stalin mit Gewalt aufgezwungen worden waren. Wieder andere, wie etwa die Krimtataren, forderten ihre Rehabilitierung — sie waren 1944 unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen verfolgt und deportiert worden — und wollten in ihre angestammte Heimat zurückkehren. Das kleine Estland wagte schon 1988 den ersten Schritt zur Unabhängigkeit. Litauen vollzog den zweiten Schritt im März 1990, als es jedweder Form der Mitgliedschaft in der Union eine Absage erteilte. Die Republiken Lettland, Moldawien, Georgien, Armenien, die Ukraine und Weißrussland folgten diesem Beispiel. Nun wurde bereits die Aufstellung nationaler Streitkräfte erörtert. Schon im Januar 1989 hatten sich Vertreter der nationalen Bewegungen des Baltikums, der Ukraine, Weißrusslands, Georgiens und Armeniens in der litauischen Hauptstadt Wilna getroffen und den weiteren Verbleib ihrer Völker im Unionsverband für »unannehmbar« erklärt.Im Unterschied zu anderen Regionen verfolgten die baltischen Republiken von Beginn an eine gewaltlose Politik, die sich auf Rechtsstandpunkte berief. Sie verwiesen auf die Ungültigkeit des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, aufgrund dessen sie dem sowjetischen Staatsverband einverleibt worden waren. Im Juni 1988 räumte das estnische Parlament den Gesetzen der Republik Vorrang vor denen der Union ein. Gegen diesen Legalismus erwies sich die Moskauer Führung noch machtloser als gegenüber der Gewalt, die sich bei anderen Konfliktherden entlud. Hier konnte sie unter Verweis auf eine notwendige »Befriedung« militärisch eingreifen. Dort aber hätte der Einsatz von Panzern, wie er etwa im April 1989 in Tiflis gegen Demonstranten für die Unabhängigkeit befohlen wurde, das Ansehen der Perestroika ruiniert. Nirgendwo sonst musste Gorbatschow die Hoffnung, die einheimischen Nationalbewegungen könnten der Erneuerung der Union dienlich sein, so früh begraben wie in den baltischen Staaten. Anfang 1990 befand er sich in einer Zwangslage: Den Staaten Ostmitteleuropas hatte er bereits das zugestanden, was er innerhalb der UdSSR nun verweigern wollte. Nachdem die Kommunistische Partei Litauens im Dezember 1989 die Abspaltung von der KPdSU beschlossen und damit die Einheit der Gesamtpartei, eine Säule der Sowjetherrschaft, untergraben hatte, versuchte Gorbatschow in Wilna, wo mehr als 200000 Menschen für die Unabhängigkeit Litauens demonstrierten, vergeblich den fahrenden Zug aufzuhalten. Im Februar 1990 gewann die Nationalbewegung Sajudis die örtlichen Sowjetwahlen. Ihr Führer, Vytautas Landsbergis, wurde zum Präsidenten gewählt. Am 11. März des Jahres erklärte der »Oberste Sowjet« des Landes Litauen für unabhängig.Ethnische Konflikte und das Ringen um eine erneuerte UnionDadurch geriet die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR), die mit Abstand größte Teilrepublik der Union, in Zugzwang und forderte ebenfalls die Eigenständigkeit. Am 12. Juni 1990 erklärte Russland seine Souveränität, verließ jedoch den Unionsverband nicht. Seither besaß die Zentralgewalt der Sowjetunion faktisch kein definierbares Territorium mehr. Sie residierte zwar in Moskau, doch die Stadt verstand sich nunmehr zunehmend wieder als Hauptstadt Russlands. Dieser Vorgang offenbarte die ganze Komplexität des Sowjetimperiums: Die Randrepubliken erbten regionale ethnische Konflikte, die sie jetzt in Eigenregie lösen mussten. Die Desintegration erfasste nun auch die Republiken selbst. Im Transkaukasus führten seit 1988 Armenier und Aserbaidschaner einen blutigen Krieg um die mehrheitlich armenische Enklave Bergkarabach, die seit den Zwanzigerjahren administrativ Aserbaidschan zugeschlagen worden war. Weit über 20000 Menschen fielen den Kämpfen zum Opfer. Während armenische Demonstranten Bergkarabach zum »Prüfstein der Perestroika« erklärten, entwickelte sich der Konflikt zum »moralischen Tschernobyl« für die Moskauer Zentralregierung, da sie an der Grenzziehung festhielt. Gorbatschow schlug offene Feindseligkeit entgegen, als er Armenien nach dem verheerenden Erdbeben vom Dezember 1988 besuchte, obwohl Moskau dort traditionell als Schutzmacht gegen die Türkei geachtet war.Tatsächlich brachen die ethnischen Konflikte einer Naturkatastrophe gleich über die Sowjetunion herein, die einerseits als Schiedsrichter gefordert war, andererseits bei jeder Revision bestehender Verhältnisse eine Kettenreaktion in anderen Republiken befürchten musste. In Moskau spielten die Behörden auf Zeit und hofften, die Gemüter würden sich von selbst beruhigen. Doch das Gegenteil trat ein — die Gewalt eskalierte und richtete sich bald auch gegen die Russen vor Ort, die in den Grenzen des Riesenreichs nun erstmals die Erfahrungen einer Minderheit machen mussten. Nun erfuhren sie am eigenen Leib, worüber bisher lediglich Angehörige anderer Ethnien geklagt hatten: Diskriminierung, Flucht, Vertreibung. Erste Meldungen über blutige antirussische Ausschreitungen kamen im Dezember 1986 aus Alma-Ata, der Hauptstadt der Kasachischen SSR. Ursache war die Ablösung des kasachischen Parteichefs durch einen Russen. Auch Georgien wurde Schauplatz heftiger Unruhen, da die Minderheit der Osseten »gleiche Rechte« forderte und der erste frei gewählte Präsident des Landes, Swiad Gamsachurdia, durch sein autoritäres Gebaren die Bevölkerung polarisierte. In der ASSR Abchasien betrieb eine Unabhängigkeitsbewegung die Abspaltung von Georgien. Jene Gebietseinheit hatte einst Stalin geschaffen, um Georgien zu schwächen. Umgekehrt schrieben die georgischen Nationalisten nicht mehr nur die Unversehrtheit der Republikgrenzen auf ihre Fahnen, sondern verlangten den Austritt aus der Union.Ein »Krieg der Gesetze« zwischen dem sowjetischen Zentrum und den Republiken war unausweichlich geworden. Der Zerfallsprozess griff auch auf Russland über. Einzelne Autonome Republiken und Kreise erklärten sich für souverän. An der Wolga bekundeten die Tataren ihre Absicht, den russischen Staatsverband zu verlassen. In Tschetschenien führten russische Truppen einen mehrjährigen blutigen Krieg, um ein sezessionswilliges kleines Volk gewaltsam am Austritt zu hindern. In Transnistrien am Dnjestr wiederum kämpften reguläre russische Verbände für eine Abtrennung der Region von der Republik Moldawien. Unbeschadet dessen blieb Russland nach Größe, Struktur und Ressourcen eine Sowjetunion im Kleinen — ein Vielvölkerreich und übermächtiger Nachbar der abtrünnigen Republiken. Gorbatschow musste sich in den Gang der Ereignisse fügen, nachdem weder die verbliebenen Unionsorgane KGB und Armee noch die Truppen des Innenministeriums den Willen der Randvölker zur Loslösung von Moskau hatten brechen können. Sein Ziel, »ein starkes Zentrum« mit »starken Republiken« zu versöhnen, erwies sich als zu hoch gesteckt. Wegen der offenkundigen Neigung der Sowjetführung, Gewalt anzuwenden, gerieten die Vertragsentwürfe für eine erneuerte Union, die das Gründungsdokument von 1922 ersetzen sollten, ins Zwielicht. Eine letzte Möglichkeit des Ausgleichs bot ein Entwurf, der am 20. August 1991 unterzeichnet werden sollte. In ihm fehlte die Verpflichtung auf den Sozialismus als bindende Gesellschaftsform. Des Weiteren sollte die Stellung der Unionsmitglieder in einer »erneuerten Föderation gleichberechtigter Sowjetrepubliken« gestärkt werden. Sogar die Steuereinnahmen wären demnach dem Zentrum weitgehend entzogen worden. Immerhin schickten sich neun Republiken an, unter diesen Bedingungen beizutreten. Neben Russland waren dies Weißrussland, die Ukraine, Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan.Das Ende der SowjetunionBevor jedoch eine Vereinbarung erzielt werden konnte, vereitelte der Putschversuch vom 19. August 1991 alle weiteren Verhandlungen. Obwohl die Putschisten angetreten waren, die Union zu retten, beschleunigten sie deren endgültigen Zerfall. Die Führer der regionalen Kommunistischen Parteien, die entgegen ihrer ursprünglich moskautreuen Haltung Zugeständnisse an die Unabhängigkeitsbewegungen gemacht hatten, büßten nun vollends ihre Glaubwürdigkeit ein. Fortan gaben mehrheitlich nichtkommunistische Republikparlamente den Ton an und erteilten dem Modell der »Nationalkommunisten« für ein gewandeltes Bündnis mit Russland eine Absage. Damit erwiesen sich die zwischen 1988 und 1990 abgegebenen Souveränitätserklärungen, die zwischenzeitlich vom Obersten Sowjet der Sowjetunion annulliert worden waren, als das letzte Wort. Nichts hielt den Verbund noch zusammen, weder der einheitliche Wirtschaftsraum noch die Überzeugung, einer zentralen Schlichtungsinstanz für ethnische Konflikte zu bedürfen. Die Mittel der Vergangenheit — Armee, KGB, Rubelwährung und das Russische als die allen gemeinsame Verkehrssprache — versagten ihren Dienst. Schließlich erschienen auch dem im Juni 1991 gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin die Nachteile einer Auflösung der Union berechenbarer als die Kosten einer gewaltsamen Rettung. Ein neuer Bund konnte erst nach der Beseitigung des alten wiedererstehen.Fast auf den Tag genau 69 Jahre nach Gründung der Sowjetunion endete ihre Geschichte mit dem Rücktritt Gorbatschows am 25. Dezember 1991. Die sowjetische Flagge über dem Kreml wurde eingeholt und durch die russische Trikolore ersetzt. Die Union war an ihrem Beginn aus einem Krieg hervorgegangen und ging nun ohne gewaltsame Einwirkung zugrunde. Einige der zentralen Institutionen der Sowjetunion führten zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur noch ein Schattendasein. Jetzt erwiesen sie sich als vollkommen überflüssig. Die Auswirkungen von »Glasnost« auf Osteuropa hatten auf das Mutterland zurückgeschlagen und den Kommunismus auch dort überwunden. In das Arbeitszimmer des zurückgetretenen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow zog nun Russlands Präsident Jelzin ein. Unter seiner Regie war am 8. Dezember 1991 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ein ostslawischer Dreibund aus den Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland gegründet worden. Noch vor Jahresende schlossen sich diesem Bund mit Ausnahme Georgiens und der drei baltischen Staaten alle ehemaligen Sowjetrepubliken an. Daraus sprach der Wunsch, bei der Bewältigung des Übergangs in eine Zeit der Ungewissheit und Instabilität nicht allein zu stehen. Zugleich war die neue »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS) Ausdruck der fortbestehenden engen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Verflechtungen der Randstaaten mit Russland. Ein völliger Bruch war kaum möglich oder hätte die Unabhängigkeit der neuen Staaten mit unkalkulierbaren Risiken belastet.Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)Die Gründungsurkunde der GUS legte fest, dass die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten auf dem Prinzip der Gleichberechtigung beruhen solle. Die Gemeinschaft sei »weder ein Staat noch ein überstaatliches Gebilde«. Die Mitglieder der GUS garantierten die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen der früheren UdSSR und verpflichteten sich, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu entwickeln, die Außen- und Verteidigungspolitik zu koordinieren und auf verschiedenen weiteren Gebieten wie Umweltschutz, Luftverkehr, Bekämpfung organisierter Kriminalität oder Migrationspolitik zusammenzuarbeiten. Die Mitglieder der Gemeinschaft vereinbarten auch die Schaffung eines gemeinsamen Kommandos über die »militärisch-strategischen Streitkräfte« und eine »singuläre Kontrolle der Kernwaffen«.Die Beziehungen zwischen einzelnen GUS-Staaten waren fortan oftmals gekennzeichnet von starken Spannungen — besonders zwischen Russland und der Ukraine (wegen der Aufteilung der sowjetischen Schwarzmeerflotte und wegen der staatlichen Zugehörigkeit der Krim), zwischen Russland und Georgien (wegen der russischen Nationalitätenpolitik in Transkaukasien) sowie zwischen Aserbaidschan und Armenien (wegen des armenischen Anspruchs auf Bergkarabach). Mit einem Vertrag über kollektive Sicherheit wurde 1994 der Versuch unternommen, gemeinsame Sicherheitsstrukturen aufzubauen. Aber Russlands Bemühen, als Ordnungsmacht in der GUS aufzutreten, erweckte immer wieder das Misstrauen einiger Mitgliedsstaaten.So erreichte die GUS als Nachfolgeorganisation der UdSSR auch nicht annähernd den Integrationsgrad ihrer Vorgängerin und konnte nicht zum Motor der Wiedergeburt eines östlichen Imperiums werden. Wechselnde Allianzen einzelner Mitgliedsstaaten untereinander waren nun attraktiver als die Wiederbelebung einer Großunion, die erneut nationale und regionale Identitäten gefährden konnte. Weder der viel beschworene »innere Kern« der GUS, der Zweibund Russlands mit Weißrussland, noch die Vierergemeinschaft dieser beiden Staaten mit Kasachstan und Kirgistan kamen über die Erprobungsphase hinaus. Ohne Beteiligung Moskaus strebten weiterhin die zentralasiatischen Republiken eine engere Kooperation untereinander an. Auch Aserbaidschan und Georgien vertieften ihre Beziehungen. Die Ukraine wiederum baute die Zusammenarbeit mit den transkaukasischen Republiken aus, ebenso mit den zentralasiatischen. Am Horizont bahnte sich somit eine antirussische Achse der energiereichen Anrainer des Kaspischen Meeres mit Georgien und der Ukraine an.So hegten diese Länder nicht nur gemeinsame wirtschaftliche Interessen, sondern bestärkten sich ebenfalls in der Unabhängigkeit von Moskau, das in mehreren dieser Staaten Armeebasen unterhielt und mit Truppen an der Grenzsicherung, etwa zu China und dem Iran, beteiligt war. Für die Ukraine bot sich die Möglichkeit, der einseitigen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu entkommen. Aserbaidschan und die zentralasiatischen Förderstaaten hofften auf alternative Liefertrassen außerhalb des südrussischen Territoriums, die sie im Verbund mit westlichen Erdölgesellschaften bauten. Auf diese Weise gelang es der GUS nicht, das legitime Erbe der Sowjetunion anzutreten.Die Russische FöderationIn die Reichstradition trat hingegen die »Russische Föderation«, die zwar den Rang einer Supermacht einbüßte, im eurasischen Halbkontinent aber der entscheidende Machtfaktor blieb. Dies äußerte sich seit 1992 in einem patriotischen Konsens, der nahezu alle politischen Lager und Strömungen erfasste und zur inneren Stabilität der Föderation beitrug. In der Öffentlichkeit stieß die Debatte über die Fragen »Wohin geht Russland?« und »Wer sind wir?« auf ein lebhaftes Echo. Ungeachtet erbitterter Auseinandersetzungen über Reformen, trotz drohender Hungersnot und eines Zerfalls des Staates war sich die Mehrheit einig, dass es Aufgabe jeder russischen Regierung sein müsse, den Weltmachtanspruch Russlands zu verteidigen und den besonderen Charakter der russischen Kultur hervorzuheben.Plädoyers für eine moralische ErneuerungPräsident Jelzin machte sich zum Wortführer einer neuen Reichsideologie. In seiner Antrittsrede als russischer Präsident vom 10. Juli 1991 prophezeite er, dass sich Russland nach der gegenwärtigen Schwächeperiode wieder »von den Knien erheben« werde. Die Russische Föderation war nach Ansicht ihrer Anhänger wegen der gewaltigen Ausdehnung des Territoriums und des Reichtums an Bodenschätzen zur Größe berufen. Ihr fiel nach dem Zerfall der Sowjetunion die Verfügungsgewalt über den größten Teil der Erbmasse zu. In absehbarer Zukunft werde der zwangsläufig erforderliche Integrationsprozess einen neuen Staatenbund hervorbringen. Allerdings dachten nur wenige an eine Wiederherstellung der Sowjetunion. In der nostalgischen Rückbesinnung auf die russische Geschichte dominierte der Reichsgedanke der Zarenzeit, dem sowohl der Atheismus als auch die revolutionäre Zielsetzung fehlte, die in der UdSSR gepflegt worden waren. In den Jahren der Perestroika war die jahrzehntelang unterdrückte, teils grausam verfolgte, teils in engen Grenzen geduldete orthodoxe Kirche unter fast triumphalen Umständen in das öffentliche Leben zurückgekehrt. Der Staat erstattete Gotteshäuser, Kultgerät und Kunstschätze zurück, und die großen christlichen Feiertage Ostern und Weihnachten wurden wieder von einer wachsenden Zahl gläubiger Christen begangen.Das Gesetz über die Glaubens- und Gewissensfreiheit von 1990 gestattete allen Religionen und Konfessionen die freie Ausübung des Gottesdienstes und der Seelsorge. Eine Renaissance erlebte auch der Islam innerhalb und außerhalb Russlands. Besonders regen Zulauf verzeichneten verschiedene Sektenbewegungen, die nach der Entzauberung der leninistischen Ideologie in das geistige Vakuum gestoßen waren. Den hohen Anspruch, führende Kraft der moralischen Erneuerung Russlands zu sein, konnte die orthodoxe Kirche schon deshalb nur unzureichend erfüllen, weil sich viele Würdenträger allzu rasch den neuen Machthabern — zunächst Gorbatschow, dann Jelzin — angedient hatten, ohne die unrühmlichen Seiten der eigenen Vergangenheit, etwa die Verstrickung in das Kontrollnetz des KGB, aufgearbeitet zu haben. So beklagte Anfang 1992 der Metropolit von Smolensk, Kyrill, vor einer Versammlung von 5000 Offizieren den Untergang der Sowjetunion als einen »Zerfall des Vaterlandes« und einer »jahrhundertealten Gemeinschaft der Völker«. Diese unkritische Rückschau durch einen hohen geistlichen Würdenträger schadete dem Ansehen der Kirche und widersprach im Übrigen dem Anliegen vieler Bürger des neuen Russland, sich ernsthaft mit der kommunistischen Vergangenheit auseinander zu setzen und nachweisbare Verbrechen geahndet zu sehen.Der Glaube an den Sonderweg RusslandsZu den Wesenszügen der russischen Patrioten gehörte bald auch die Ansicht, Russland sei keinem anderen europäischen Land vergleichbar. Deshalb könne auch das westliche Modell einer marktwirtschaftlichen Demokratie nicht einfach übernommen werden. Vielmehr müsse nach einem tief in der eigenen Tradition verwurzelten »russischen Weg« gesucht werden: Ein starker Staat war auch früher als eine Art Großunternehmer und »Oberaufseher« aufgetreten und hatte garantiert, dass die Wirtschaft in sozial verträglichen Bahnen verlief.Der »Sonderweg« Russlands schien noch aus anderen Gründen gerechtfertigt: Da die Bewohner der Russischen Föderation keine ethnisch homogene Nation wie zum Beispiel die Franzosen oder die Polen bilden, musste das »Staatsvolk« bei Gründung der Präsidialrepublik 1991 auf ganz eigene Weise benannt werden. Neben den über 80 Prozent ethnischen Russen gehören der Russischen Föderation andersstämmige Völker wie etwa die Tschetschenen, die Russlanddeutschen oder die Tataren an. Deshalb wurde die Staatsbezeichnung »Russische Föderation« (Rossijskaja Federazija) nicht vom Begriff der ethnischen Russen (russkie), sondern vom alten Reichsbegriff Rossija abgeleitet. Die russische Nation umfasst demzufolge alle Staatsbürger und soll als politische Gemeinschaft unteilbar sein. Als entsprechend begrenzt war die Bedeutung politischer Parteien gedacht, die angeblich stets nur partikulare Interessen, nicht aber »das Ganze« verkörpern. Davon ging bereits die frühere Vorstellung eines eigenen »Sowjetvolks« aus. Beide Konzepte einer überethnischen Nation sind problematisch, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker relativieren. Die neue Reichsideologie setzte mehr oder weniger ausgeprägt voraus, dass Moskau auch das »zweite Russland«, die Russen außerhalb der Föderation, vertritt und Verantwortung für deren Siedlungsgebiete übernimmt.Die russische Außenpolitik legte sich nicht von vornherein auf bestimmte Allianzen fest. Weder die Demokratien des Westens noch die aufstrebenden Staaten im asiatisch-pazifischen Raum oder im Nahen Osten erfuhren dabei exklusive Beachtung. Beim Versuch, Russland als Dreh- und Angelpunkt in der eurasischen Region auszugeben, dem Alliierte schon durch die Anziehungskraft dieses Gravitationszentrums zuströmen würden, lief die russische Diplomatie Gefahr, in die Isolation zu geraten. Vor allem die Nachbarstaaten befürchteten, dass Moskau, wenn es das »nahe Ausland« als eine unmittelbar russische Interessensphäre betrachtete, »revisionistische Ziele« verfolge. Davon zeugte beispielsweise der anhaltende Streit um eine Rückgabe der Stadt Sewastopol durch die Ukraine oder der zähe Widerstand gegen die Osterweiterung der NATO. Nicht immer war eindeutig erkennbar, ob eine solche Außenpolitik lediglich der Besänftigung innenpolitischer Konflikte dienen sollte. Jedenfalls wurde so die Neigung geschürt, die Misere des Landes dem Ausland oder gar ominösen »Verschwörungen« anzulasten. Über solche Bedrohungsvorstellungen schrieb der stellvertretende Chefredakteur einer angesehenen Moskauer Wochenschrift: »Am Ende des 20. Jahrhunderts sehen sich die Russen noch immer von Feinden umgeben: von »Imperialisten«, »Freimaurern«, dem »Judentum«, den »Nicht-Russen« oder den neuen Privatunternehmern.«Wider das symbolische Erbe der revolutionären VergangenheitNicht vollends von der Tragfähigkeit der neuen Reichsideologie überzeugt, ließ Präsident Jelzin 1996 einen hoch dotierten Wettbewerb ausschreiben, dessen Ziel es war, eine »neue russische Nationalidee« zu formulieren. Vielfach belächelt, stieß die »Fünf-Millionen-Idee« gleichwohl auf ein lebhaftes Echo. Angesichts zahlreicher kurioser, mystischer oder grotesker Beiträge zeigte das ungewöhnliche Unterfangen vor allem eines: die Vielfalt des Denkens und die Aussichtslosigkeit eines Versuchs, auf Knopfdruck verbindliche Ideen zu produzieren. Bei dieser Suche nach sich selbst erinnerte vieles an die »Zeit der Wirren« nach 1917, als Russland mit alternativen Wegen aus den Trümmern des untergegangenen Zarenreiches experimentierte. Schon damals hatte sich vieles als reines Gedankenspiel erwiesen, das mit den Realitäten des Landes kaum in Einklang zu bringen war.Der Zerstörung alter Mythen folgte die Einführung neuer: Anstelle der sowjetischen Nationalhymne intonierten russische Ensembles eine Weise aus Michail Glinkas 1836 komponierter Oper »Ein Leben für den Zaren« — allerdings ohne Worte. Der doppelköpfige Adler ersetzte das kommunistische Emblem von »Hammer und Sichel«, die Farben Weiß-Blau-Rot lösten das alleinige Rot ab. Nach Revolutionären benannte Städte, Straßen, Plätze, Fabriken, Kindergärten und Schulen erhielten ihre früheren Namen zurück oder vollkommen neue. Um das Leninmausoleum, die zu Sowjetzeiten von unzähligen Menschen besuchte Pilgerstätte, entbrannte ein bizarrer Streit: Sollte der einbalsamierte Leichnam des Staatsgründers der UdSSR auf gewöhnliche Art bestattet werden, gar mit kirchlichem Zeremoniell? An die Stelle des Leninkults trat nun das Spektakel um die bei Jekaterinburg aufgefundenen Gebeine des letzten Zaren Nikolaus II. und seiner Familienangehörigen. Nur die von den Postkommunisten beherrschte Duma, das Parlament, meldete Widerspruch gegen Dekrete Jelzins an, das symbolische Erbe der revolutionären Vergangenheit preiszugeben. Hinter der Fassade des Streits um scheinbare Äußerlichkeiten leuchtete aber die eine Erkenntnis durch: Unter dem kritischen Rückblick der ernüchterten Zeitgenossen schmolz das entzauberte Sowjetimperium auf seinen historischen Kern zusammen und wartete auf seine Einordnung in die tausendjährige Geschichte des Territoriums, das man gewohnt ist, Russland zu nennen.Prof. Dr. Nikolaus KatzerWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:GUS: Die islamischen GUS-Staaten am ScheidewegGrundlegende Informationen finden Sie unter:Sowjetunion: Gorbatschows Politik der ErneuerungGolczewski, Frank / Pickhan, Gertrud: Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte. Göttingen 1998.Mark, Rudolf: Die Völker der ehemaligen Sowjetunion. Die Nationalitäten der GUS, Georgiens und der baltischen Staaten. Ein Lexikon. Opladen 21992.Sowjetunion 1990/91. Krise - Zerfall - Neuorientierung, bearbeitet von Gerhard Simon. München u. a. 1991.
Universal-Lexikon. 2012.